Endspielthriller in Aue

Montag, 15 April 2013 23:43 Benno

Ein altes russisches Sprichwort rät, man solle das Fell eines Bären nicht verkaufen, bevor man ihn erlegt hat. Angesichts der natürlichen russischen Autorität in allen schachlichen Belangen hätte man vielleicht erwarten können, dass unsere Konkurrenten uns noch nicht als sicheren Absteiger abschreiben, bevor die kleinste Chance auf den Klassenerhalt erloschen ist – auch dann nicht, als wir drei Runden vor Schluss mit desaströsen null Mannschaftspunkten auf dem letzten Platz standen.

 

Andererseits war die Aufholjagd zwar bis zu dieser letzten Runde gelungen, aber beim Auswärtsspiel in Aue– eine sehr starke Mannschaft, vor zwei Jahren noch Erstligist, die jedes Team ab Position vier in der Tabelle besiegt hat – erwartete uns jetzt eine schwere Aufgabe.

 

aue2013 01Wie immer waren wir bereits am Vortag zur Vorbereitung angereist; rechts der schöne Blick von unserem Hotel in Schneeberg. Deutlich getrübt schien dagegen allerdings die Aussicht auf unser eigentliches Reiseziel, den Klassenerhalt, als sich am nächsten Morgen herausstellte, dass unser eigenständig anreisendes und für gewöhnlich ebenso verlässliches wie starkes Brett eins nicht rechtzeitig zum Rundenbeginn nach Aue kommen würde. (0 – 1, kampflos)

 

aue2013 02Bei vier verbleibenden Schwarzpartien und einem Stand von 0-1 gegen eine favorisierte gegnerische Mannschaft war klar, dass wir nur noch über eine außerordentliche Energieleistung zum Erfolg würden kommen können. Zunächst lief jedoch weiter alles gegen uns. An Brett vier versuchte Harald, das Spiel durch eine leicht exotische Eröffnungsbehandlung (1. … e6, 2. … b6) in originelle Bahnen zu lenken, um Gewinnchancen zu provozieren. Sein Gegner allerdings reagierte solide und stark, und bald war Haralds Lage strategisch nicht beneidenswert, da seine Figuren nicht auf günstige Felder entwickelt werden konnten und auch kein programmatisches Gegenspiel im Zentrum auszumachen war. Er versuchte noch, die Lage mit g7-g5 auf Kosten der eigenen Königssicherheit zu verunklaren (eigentlich genau wie in Svidler-Aronian, London 2013), aber das konnte nicht gelingen. So stand es schon recht früh 0-2, und man hätte jetzt wohl wirklich niemandem mehr verübeln können, über die Aufteilung des Garchinger Pelzes nachzudenken. (0 – 2)

 

aue2013 03Dann geschah für einige Stunden im Ergebnissinne nichts; es entwickelten sich aber äußerst spannende Partien, teils mit Vorteilen für die Gegner aus Aue, teils mit Chancen auf unserer Seite. Thorsten (Brett 6, gegen IM Wichmann) spielte in der Gligoric-Variante des Königsinders mit Dd8-d7 einen anrüchigen Zug; im weiteren Partieverlauf musste er enorm viel arbeiten, um seine Stellung zusammenzuhalten, auch wenn für einen einzigen Moment mit Hilfe eines taktischen Tricks (16. … Sc5!) sogar die Chance auf einen kleinen Vorteil bestand. Schließlich endete dieser Drahtseilakt mit einem für uns ganz wichtigen Remis. (0,5 – 2,5)

 

aue2013 04Dass wir nicht ohne Gegenwehr den Gang in die Oberliga antreten würden, wurde aber erst nach dem Ende von Rolands Partie (Brett 2) klar.Mit den schwarzen Steinen gegen Großmeister Viesturs Meijers hatte er in einer komplexen slawischen Verteidigung die Übersicht behalten und die Angriffsversuche des Weißen abgewehrt. Seinen Mehrbauern musste er zunächst zurückgeben, da die gegnerische Kompensation anderenfalls mehr als ausreichend gewesen wäre, aber im darauffolgenden Turmendspiel konnte Roland dann den Big Point für uns verbuchen – sehr zur Freude auch von unserem Teamchef, Organisator und Rückgrat der Mannschaft, Hans, der hier noch den günstigen Partieverlauf beobachtet. (1,5 – 2,5)aue2013 05

 

Mit diesem Erfolg im Rücken ging es zunächst ganz in unserem Sinne weiter. Markus (Brett 7 mit Weiß) hatte in einem damenlosen Mittelspiel des Schotten eine erstklassige Positionspartie gespielt. Unter Anbieten verschiedener Bauernopfer aktivierte er seine Figuren, und erreichte durch ein filigranes Springer-Turm Ensemble entscheidenden Vorteil. Durch eine minimale Ungenauigkeit verflachte die Partie allerdings in ein theoretisch remises Turmendspiel. Jedoch war dessen Verteidigung nicht trivial, und tatsächlich konnte Markus die Partie nach dem ersten Fehler des Gegners mit einer sehr eleganten taktischen Wendung gewinnen. (2,5 – 2,5)aue2013 06

 

Wir hätten nicht unbedingt noch mehr zusätzliche Dramatik erzeugen müssen, aber die übrigen drei Partien zogen sich alle bis in die abschließende Zeitnotphase. Meine eigenen Bemühungen an Brett acht waren zunächst sehr vielversprechend verlaufen; in einer mir gut bekannten Katalanisch-Variante hatte ich mit Schwarz nach wenigen Zügen bereits deutlichen Vorteil, und nach 15. … h6! (anstelle des verlockenden, aber letztendlich schwächeren 15. … Se4!?) hatte Weiß keine Möglichkeit, seine Stellung zu halten. Mit dem resultierenden Mehrbauern ins Endspiel gestartet, machte ich die Sache jedoch durch eine Ungenauigkeit noch einmal spannend, und konnte erst viel später aus komplizierter Lage gewinnen. (3,5 – 2,5)

 

aue2013 07Jetzt stand der Kampf bei nur noch zwei verbleibenden Partien (Chris an drei, Elena an fünf) wirklich auf des Messers Schneide. Chris gestaltete seine Partie gegen den jungen und mit fast 2.600 ELO enorm starken Ungarn Peter Prohaszka lange Zeit offen, musste aber in der Eröffnung bereits viel Zeit investieren. Im Panov-System des Caro-Kann hatte Prohaszka mit der Fianchettierung des schwarzfeldrigen Läufers ein selteneres System gewählt, in dem er sich dafür umso besser zurechtfand. Nach und nach geriet Chris in eine nicht mehr angenehme Lage, die schließlich zu einem nachteiligen Turmendspiel führte. Dieses war, jedenfalls in der inzwischen massiven Zeitnot, nicht mehr zu halten. (3,5 – 3,5)

 

Elenas Partie, die jetzt über Klassenerhalt oder Abstieg entscheiden musste, war ein langer, komplizierter Tarrasch-Franzose. Um Gewinnchancen zu erzeugen, hatte Elena zwei Leichtfiguren für einen Turm und die Freilegung des schwarzen Königs gegeben, was die Partie weiter verunklarte. Nach interessanten Verwicklungen hatte Weiß schließlich deutlichen Vorteil – jedoch galt es diesen zu verwerten, indem die Bauern vor dem eigenen König in Richtung des gegnerischen Monarchen geschickt werden, ohne selbst in Matt- oder Dauerschachgefahr zu geraten.

 

aue2013 08Zum Abschluss einer Saison, die sich über sieben Monate erstreckte, und die insgesamt 72 Partien mit etwa 2.500 Zügen sowie geschätzte 400 Stunden Gesamtspielzeit umfasst hat, hängt also letztendlich alles an einigen wenigen Momenten in Partie Nummer 72, in der zwei Spieler(innen) allein mit dreißig Sekunden Inkrement als Restbedenkzeit über Abstieg oder Klassenerhalt entschieden. Bei der unklaren Lage auf dem Brett war natürlich keine Zeit für solche Betrachtungen – klar war aber, dass Elenas Nerven besser sein müssen als die von einigen Zuschauern, die sich dieses Endspiel nicht anschauen konnten und den Saal verließen… In der Rückschau ist das Übrige leicht erzählt: Mit verschiedenen Mattdrohungen und großer Übersicht gelang Elena der Angriff, und auch die Dauerschachversuche des Gegners konnte sie abwehren und damit den unter den geschilderten Bedingungen beinahe fantastischen Sieg unserer Mannschaft sicherstellen. (4,5 – 3,5)

 

aue2013 09Mit der Gratulation von Elenas Gegner war der Klassenerhalt perfekt. Es war der Schlusspunkt einer späten Aufholjagd aus fast aussichtsloser Tabellensituation, und eines Mannschaftskampfes, den wir sicher nicht so schnell vergessen werden – aber vielleicht sollten wir uns bemühen, diese entscheidende Unterzeichnung der Partieformulare zukünftig irgendwann zwischen Runde drei und sechs stattfinden zu lassen; das nur als Anregung für die kommende Saison. Mal schauen wie es wird – nächstes Mal, in der Zweiten Bundesliga…

 

 

 

 

 

     ESV Nickelhütte Aue 1 2356 -    SC Garching 1980 1 2354 3,5 – 4,5
1 1 Slobodjan, Roman 2529 - 1 Stocek, Jiri 2557 + – -
2 2 Meijers, Viesturs 2474 - 2 Loetscher, Roland 2399 0 – 1
3 3 Prohaszka, Peter 2573 - 3 Koepke, Christian 2355 1 – 0
4 7 Spiess, Gunter 2415 - 4 Bredl, Harald 2361 1 – 0
5 8 Eichner, Sebastian 2292 - 5 Levushkina, Elena 2288 0 – 1
6 9 Wichmann, Cliff 2348 - 6 Schmitz, Thorsten 2342 0,5 – 0,5
7 14 Diebl, Lutz 2214 - 7 Schleich, Markus 2306 0 – 1
8 16 Peil, Christoph 2006 - 8 Ruecker, Benjamin 2227 0 – 1